25.5.2017, Christi Himmelfahrt, ca. 18 km
Jakobsweg, Bonn - Metz, Karte:: 1. Etappe bis Buschhoven/Swisttal (s. Karte an der B 56 westl. von Witterschlick)
Frühes Aufstehen begeistert mich eigentlich selten. Aber ich habe es tatsächlich geschafft, am ersten Tag meines Vorhabens, das Bett auch pünktlich mit dem Klingeln des Weckers zu verlassen. Meinen Rucksack habe ich schon soweit fertig gepackt, eigentlich absolut untypisch für mich, diese strukturierte Vorgehensweise, ich bin stolz auf mich. Einzig und allein meine Schuhe könnten vielleicht ein Problem darstellen, na, und vielleicht meine Kondition, vielmehr der Mangel an derselben. Man wird sehen. Ich versuche es heute mit meinen Wanderschuhen, schön eingelatscht.
Das Wetter verspricht, schön zu werden, also geht´s los. Voller Elan springe ich, soweit mir dieser so früh am Morgen möglich ist, in mein Auto und mache mich auf den Weg Richtung Ramersdorf/Bonn, wo ich mein Auto auf einem Park & Ride Parkplatz abstelle, um von dort mit der Linie 66 weiter Richtung Bonn Innenstadt zu fahren.
Bonn früh am Morgen hat ein eigenes Flair, ich empfinde die menschenleeren Gassen als sehr angenehm. Denn ich bin kein Fan von Menschenaufläufen. Mein erstes Ziel, das Bonner Münster, St. Martin ist bald erreicht.
Vor dem Münster "rollen" ein paar Köpfe - genauer gesagt, zwei. Die hat der türkische Künstler Iskender Yediler aus Granit gehauen und stellen die Köpfe der römischen Märtyrer Cassius und Florentius dar. Der, den man auf neben stehendem Foto sehen kann, ist Cassius. Die beiden sind die Schutzpatrone der Stadt Bonn. Das Bonner Münster war Verehrungsstätte dieser beiden Männer.
Das Bonner Münster stammt aus dem 11. Jahrhundert und seine Architektur gilt als romanisch. Romanisch mit gotischen und barocken Elementen. Leider ist die Nordseite der Kirche, an der sich die Hauptpforte befindet, komplett eingerüstet, weil sie renoviert wird. Darum habe ich auf ein Foto von dieser Seite aus verzichtet.
So betrete ich die Kirche durch die Nebentüre. Als ich das Kirchentor öffne, empfängt mich gewaltige Orgelmusik, einige Besucher der Morgenmesse verlassen gerade die Kirche. Also genau die richtige Zeit für mich, denn ich liebe Orgelmusik, und in einer fast leeren Kirche umso mehr. Ich setze mich, lasse Musik und Kirche auf mich wirken. Nach diesem schon fast meditativen Einstieg in den Tag beginne ich meinen Jakobsweg.
Ich gehe los.
Dieser führt mich vom Bonner Münster aus durch die Fußgängerzone Richtung Bahnhof, den ich unterquere, um dann am LVR-Landesmuseum vorbei, die Endenicher Allee Richtung Endenich zu marschieren. Der Weg ist als Jakobs-Pilger-Pfad gut gekennzeichnet, eigentlich benötige ich fast keine Karte. Im Moment noch. In Endenich schüttelt mich ein kurzer Nostalgieanfall, denn hier habe ich während meiner Studentenzeit einige Jahre gewohnt. Lang ist´s her, und es war eine schöne Zeit. Ich lasse den für mich so geschichtsträchtigen Ort hinter mir und wandere kurze Zeit später durch das Meßdorfer Feld.
Eigentlich sind´s ja Felder bzw. Wiesen. Mittlerweile ist es schon ziemlich warm geworden, die Sonne knallt auf mich herab, und ich beginne mit meinem Lieblingsspiel, dem Schattenspringen, das sich hier als ziemlich problematisch herausstellt, denn es gibt hier nur wenige schattenspendende Bäume. Für die unbarmherzige Sonne entschädigen mich die wunderschönen Mohn- und Kornblumen am Wegesrand. Ich bin ein ausgesprochener Pflanzenfan, notiere in meinem Kopf, "das nächste Mal das Pflanzenbuch einpacken", denn in den letzten Jahren habe ich auch einiges wieder vergessen, weil das Wandern aus meinem Visier verschwunden war. Warum eigentlich? Keine Ahnung. Ich glaube, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass das alleine auch Spaß machen könnte. Und ich bin absolut kein Vereinsmeier. Deshalb war ein Wanderverein nie eine Option für mich.
Nachdem ich das Schattenspringen im Meßdorfer Feld mehr oder weniger erfolgreich absolviert habe, erreiche ich den Bonner Ortsteil Lessenich/Meßdorf mit seiner kleinen Kirche St. Laurentius.
Ich würde mir diese Kirche aus dem 11./12. Jahrhundert gerne von innen anschauen, aber leider sind die Tore geschlossen. Mir ist es immer rätselhaft, warum Kirchentore verschlossen sind, denn das widerspricht doch eigentlich der Botschaft des Christentums. Von wegen "lasset die Kinder zu mir kommen"...
Aber was nützt mir die Philosophiererei, die öffnet die Türen jetzt auch nicht, und ich bin nicht Ali Baba. Das wäre auch ein kleines Kontrastprogramm...
Also mache ich es mir auf einem Mäuerchen im Schatten des Baumes bequem und schaue mir die Kirche von außen an.
Wunderbar ruhig ist es hier. Ich würde am liebsten im Schatten sitzen bleiben, denn mittlerweile ist es doch schon ziemlich heiß.
Dennoch schnappe ich mir nach dieser kleinen Pause meinen Rucksack und weiter geht´s.
Mein Weg führt mich bald aus Lessenich heraus, wieder über die freien Felder Richtung Gielsdorf bei Alfter. Hier trifft mich die Nostalgie noch einmal wie ein Faustschlag, denn hier streife ich wieder durch alte Heimat. Hier habe ich ebenfalls einige Zeit gewohnt. Sonnen- und nostalgietrunken steuere ich auf eine einsame Bank unter einem Baum an einer Wegekreuzung zu, um erneut Schatten zu tanken.
Obwohl der Weg von Lessenich bis hierher nicht weit war, fühle ich mich ziemlich mitgenommen, ich vertrage die Hitze nicht so gut. Für mich könnte das ganze Jahr Frühling oder Herbst sein. Ich mag die - wie ich sie immer nenne - Übergangsjahreszeiten. Nicht zu kalt, nicht zu heiß. "Für die nächste Etappe muss ich mir auf jeden Fall einen Sonnenhut mitnehmen", überlege ich, auch wenn ich damit immer wie eine Schießbudenfigur aussehe. Egal, die Bäume, Wiesen und Felder stört´s nicht. Denn ich möchte auf jeden Fall weitermachen. Hätte nie gedacht, dass mir Allein-Wandern Spaß machen könnte. Aber man ist herrlich unabhängig dabei. Und wie durch ein Wunder sind meine Plagegeister, die in den letzten Monaten ständig an mein Hirn und mein Herz klopften, ein bisschen weggerückt. Sie sind nicht verschwunden, aber nicht ganz so präsent, es sei denn, ich laufe gerade durch eine geschichtsträchtige Gegend.
Mit diesen ungewohnt leichten Gedanken mache ich mich wieder auf meinen Weg. Bald habe ich Gielsdorf erreicht. Nach einem kleinen Anstieg stehe ich vor der St. Jakobus Kirche.
Der Kirchturm war ursprünglich einmal ein Wehrturm, an den dann im 11. Jahrhundert eine Kapelle angebaut wurde. Im 15. Jahrhundert wurde beides zu einem Kirchenraum verbunden. Um 1880 entstand ein weiterer Anbau, in dem sich ein neugotischer Hauptaltar befindet. Leider sind meine Fotos davon zu dunkel geworden. Wer mehr darüber lesen will, kann den oben angegebenen Link anklicken.
Die Wandmalereien in dieser kleinen Kirche haben es mir besonders angetan. Auch sie stammen aus dem späten 15. Jahrhundert. Ich finde sie außerordentlich sehenswert und ich war bestimmt nicht das letzte Mal dort.
Nach einem Eintrag in das Pilgerbuch mache ich mich wieder auf den Weg. Es geht stetig bergan, was ich bei dieser Hitze nicht besonders lustig finde. Aber ich bin unerschütterlich und gehe weiter, bis ich den "Gipfel" erreicht habe und mich lautstarkes Gegröle begrüßt. Mit so einem herzlichen Empfang hätte ich jetzt nicht gerechnet. Aber bevor ich mich darüber freuen kann, fällt mir ein, es ist Vatertag. Das begeisterte Gejohle gilt leider nicht mir. Der Tag, an dem viele Väter, oder solche, die es werden wollen oder die einfach ein Alibi brauchen, um sich einen hinter die Binde zu gießen, um die Häuser ziehen. Ich mache mich möglichst unsichtbar, schleiche klammheimlich an der johlenden Meute vorbei, und schlage dann den Weg ein, der mich in den Kottenforst Richtung Dünstekoven führt.
Der Kottenforst ist ein ca. 4000 ha großes Waldgebiet, das zum Wandern einlädt. Es gibt dort viele Eichen und Hainbuchen. Als Sprachwissenschaftlerin interessiert mich natürlich, woher das Wort stammt. Es stammt wohl ursprünglich von dem keltischen Wort "coat" ab, was soviel bedeutet, wie Wald. Also eigentlich ein doppelt gemoppeltes Wort, ein Waldwald.
Was ich bis dato nicht wusste, dieser besondere Waldwald singt auch. Ja, richtig gelesen, er singt. Zumindest an Tagen wie diesem, abgesehen von den Vögeln oder dem Blätterrauschen durch den Wind. Was ich an Wäldern normalerweise so sehr liebe, ist neben dem Schatten, den sie an heißen Tagen spenden, die Ruhe, die sie auf mich ausstrahlen.
Normalerweise. Heute aber nicht, denn immer, wenn ich im Gleichklang meiner Schritte drohe, in eine meditative Stimmung zu verfallen, schreckt mich von irgendwoher lautes Gegröle auf und sorgt dafür, dass ich nicht in Trance verfalle.
"Die Bäume können eigentlich nicht die Verursacher dieser merkwürdigen Geräuschkulisse sein", überlege ich mir, und wie zur Bestätigung kommt mir mitten im Wald ein Trupp angeheiterter Väter oder "Väternder" entgegen, augenscheinlich begeistert darüber, endlich einen guten Anlass gefunden zu haben, sich die Kante geben zu können. Und es bleibt nicht die letzte Begegnung der "dritten Art". Diese leicht absurd wirkenden Begegnungen häufen sich an diesem Tag. Aber alle sind, obwohl sehr laut, anders scheinen sie ihrer Freude keinen Ausdruck geben zu können, ausgesucht freundlich, denn ich werde immer fast schon herzlich gegrüßt. Das fällt mir auf.
Kurz und gut, den Wald als Hort innerer Sammlung kann ich für heute vergessen, dafür ist es zu laut hier. Aber mich stört es trotzdem nicht. Da ich mich nicht innerlich sammeln kann, konzentriere ich meinen Blick auf die Schatten, die die Bäume auf den Boden werfen. Ich stelle mir das jetzt wortwörtlich vor. Schatten auf den Boden werfen....
Aber es ist wunderschön, wie das Licht der Sonne sich immer wieder neue Plätzchen zwischen den Blättern und Nadeln sucht, und damit immer wieder sich ändernde Bilder auf den Waldboden malt.
Geschätzt zwei Stunden und zehn "Vätergesangsgruppen" später, habe ich den Kottenforst erfolgreich durchquert und gelange an eine weite Feldflur. Dünstekoven ist nicht mehr weit. Mittlerweile ist es Nachmittag und meine Fußsohlen fühlen sich an wie rohe Fleischbällchen. "Selbst schuld", denke ich mir, "was rennst du auch völlig kopflos und von Null auf Hundert direkt so eine weite Strecke". Die Schuhe sind nämlich schon eingelaufen, schon so lange, dass sie schon bald wieder ausgelaufen sind. Daran kann es also eigentlich nicht liegen. Trotzdem werde ich die nächste Etappe mit anderen Schuhen starten. Vielleicht liegts ja doch daran. Inmitten meiner Überlegungen drängt sich ein mir schon mittlerweile bekanntes Geräusch, das mit jedem Schritt lauter wird. "Oh weia, der nächste Trupp", denke ich mir und wappne mich innerlich.
Aber dieses Mal hört sich dieses Geräusch größer an. Und richtig, dieses Mal kommt mir kein Bollerwagen mit jubelnden Vätern entgegen, sondern ich nähere mich dem Sportplatz von Dünstekoven, der etwas oberhalb des Ortes liegt, normalerweise wahrscheinlich ziemlich einsam, aber heute findet dort ein großes Fest statt. Alles voll gestellt mit Zelten und vielen Menschen. Auf und um den Sportplatz herum ein Riesengewimmel. "Dünstekoven muss leer sein. Die sind alle hier. Gut, dass ich hier nicht abbiegen muss", denke ich mir, denn dann müsste ich mitten durch das Gewimmel. Und gehe geradeaus weiter Richtung Dünstekoven, noch nicht ahnend, dass ich hier meinen ersten entscheidenden Fehler auf dieser Tour mache. Ich stapfe munter vor mich hin, ein bisschen mit zusammengebissenen Zähnen, denn das Gehen wird allmählich schmerzhafter. Unten im Ort angekommen suche ich nach der Jakobsmuschel, die mir bisher ziemlich zuverlässig den Weg gewiesen hat. Aber nichts in Sicht, was ansatzweise einer Jakobsmuschel ähnelt. Schon bald merke ich, dass ich mich verlaufen habe. Ein genauerer Blick auf meine Karte - GPS mache ich nicht, ich bevorzuge das Papier. Ich sehe jetzt die grinsenden Gesichter derer, die mich kennen, im Geiste vor mir - verrät mir auch, wo ich mich verlaufen habe. Ich hätte am Sportplatz abbiegen müssen, mitten in das Gewimmel hinein. "Großartig", denke ich, "aber ich humple jetzt nicht wieder den Berg hoch, zurück zum johlenden Sportplatz, ich nehme einen anderen Weg".
Gesagt, getan, auf der Karte finde ich einen Weg durch die Felder, der mich von Dünstekoven nach Buschhoven führen wird. Er trifft dann kurz vor Buschhoven, meinem Zielort für heute, wieder auf den Jakobsweg. Ich setze mich wieder in Bewegung. Mühsam diesmal. Meine Fleischbällchen, sonst Füße genannt, protestieren bei jedem Schritt. Aber ich halte durch, schaffe es sogar, noch ein paar schöne Fotos von den wogenden Gerstenfeldern und der Weite um mich herum zu schießen. Ich liebe Gerstenfelder, wenn das Getreide im Wind zu tanzen scheint. Trotzdem kann ich die Landschaft nicht mehr so genießen, wie sie es verdient hätte. Zu allem Überfluss knallt die Sonne auf mich herab. Kein Schatten in Sicht.
Trotzdem humple ich unverdrossen vor mich hin. Der Weg durch die Felder scheint sich endlos hinzuziehen. Mein Ziel, zwar die ganze Zeit im Blick, scheint keinen Meter näher zu rücken. Irgendwann beginne ich, meine Schritte zu zählen und nicht die ganze Zeit auf mein Ziel zu starren. Irgendwann bei 5000 Schritten höre ich mit dem Zählen wieder auf. Als ich dann endlich nach gefühlten 100 Stunden in Buschhoven "einlaufe", bin ich erleichtert. Ich möchte nur noch sitzen und am liebsten gar nicht mehr aufstehen. Den Besuch der Kirche verkneife ich mir, verschiebe ihn einfach auf den Beginn meiner nächsten Etappe. Ich hinke ziemlich "eierig" zu der Bushaltestelle, von der der Bus mich wieder nach Bonn zurückbringen soll. Stelle fest, der nächste fährt erst in zwei Stunden. "Großartig", denke ich, " dann kann ich hier noch ein bisschen Party machen". Mache ich natürlich nicht, wie auch, mit diesen Fleischbällchen am unteren Ende meiner Beine. Stattdessen suche ich mir ein Plätzchen im Schatten, genau gegenüber der Bushaltestelle, damit der Weg nachher zum Bus nicht so weit ist. Sonst würde ich den womöglich noch verpassen. Der Schattenplatz befindet sich an einer Tankstelle. Toller Warteplatz, aber egal, ich gehe keinen Schritt mehr weiter als ich muss. Also setze ich mich vor die Tankstelle und beobachte das Kommen und Gehen (besser Fahren) der Kunden. Aber auch das längste Warten hat irgendwann einmal ein Ende. Als ich endlich in dem ersehnten Bus sitze, Gott sei Dank gut klimatisiert, ziehe ich mein Resumee für diesen Tag.
1. Allein Wandern macht doch Spaß, aber nächstes Mal mit anderen Schuhen.
2. Im Zweifel immer auf die Karte gucken, aber was, wenn man eigentlich keine Zweifel hatte? Dann ist´s Pech.
3. Auf jeden Fall den Sonnenhut mitnehmen, sieht das auch noch so dämlich aus, egal.
4. Leere Kirchen ziehen mich magisch an (aber das wusste ich schon vorher).
5. Unterwegs sein lüftet Kopf und Herz.
Mit diesen Gedanken kehre ich nach Hause zurück. Es war ein langer Tag. Mir tut alles weh. Es ist schon spät. Ich werde gleich ins Bett fallen. Ich werde bald wieder losgehen. Vielleicht übermorgen.
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